Ausstellung erleben

Hier findest Du die gesamten Inhalte der Ausstellung. Stele für Stele.

Von Rätern, Römern
und Romanen

Von Rätern, Römern
und Romanen

Graubünden scheint eine Doppelexistenz zu führen: Die kantonale Eisenbahn heisst nicht etwa Bündner Bahn, sondern Rhätische Bahn und statt einem Bündner Museum gibt es ein Rätisches Museum.

Der Grund ist das sagenumwobene Volk der Räter, das lange vor Beginn der Zeitrechnung im Alpenraum lebte. In weiten Teilen Graubündens siedelten zwar Kelten, aber rätisch wurde das heutige Graubünden trotzdem – und zwar durch die Römer, welche vor rund 2000 Jahren eine riesige, weit über das heutige Graubünden ausgreifende Provinz namens Raetia einrichteten.

Mit den Römern veränderte sich auch die Sprache: Das Latein fand in die Provinz hinein – und entwickelte sich in den folgenden Jahrhunderten zu einer eigenständigen Sprache; dem Rätoromanischen.

Heute ist Rätoromanisch nebst Deutsch und Italienisch Amtssprache in Graubünden, dem einzigen dreisprachigen Kanton der Schweiz. Und so hat Graubünden nicht nur eine Rhätische Bahn und ein Rätisches Museum, sondern eben auch eine «Viafier retica» und ein «Museum retic».

Wo bitte geht es zum
«Lai da Constanza»?

Wo bitte geht es zum
«Lai da Constanza»?

Der «Lej da Segl»? Klar, dabei handelt es sich um den Silsersee im Oberengadin. Der «Lai da Palpuogna»? Klar, das ist der Bergsee in der Nähe des Albulapasses, der immer wieder als schönster See der Schweiz bezeichnet wird. Aber wo liegt der «Lai da Constanza»?

Ganz einfach: «Lai da Constanza» ist die rätoromanische Bezeichnung für den Bodensee. Tatsächlich reichte der rätoromanische Sprachraum im Norden einst bis zum sogenannten «Schwäbischen Meer». Im Osten erstreckte sich der rätoromanische Sprachraum sogar weit über die heutige Schweizer Grenze hinaus bis in den Vinschgau – respektive bis «Vnuost».

Was für ein Theater!

Was für ein Theater!

Gross ist die Aufregung im Jahr 1534 in Zuoz: Auf dem Dorfplatz des Oberengadiner Dorfes wird Gian Travers’ Theaterstück «Die Lebensgeschichte des Patriarchen Josef» uraufgeführt. Wohl noch nie zuvor wurde so ein Werk in rätoromanischer Sprache auf die Bühne gebracht. Im Original heisst das Stück denn auch: «La Histoargia dal bio patriarch Josef».

Gian Travers gilt als Schöpfer der oberengadinisch-romanischen Schriftsprache. Doch gesungen und gedichtet wurde auf Rätoromanisch schon lange vor ihm. Noch heute bekannt ist etwa «La canzun da Sontga Margriata», das uralte «Lied von der heiligen Margaretha». Es handelt von einer Frau, die als Mann verkleidet auf einer Alp arbeitet und verraten wird.

Gesungen, getanzt und gespielt wird natürlich auch heute noch auf Rätoromanisch – und wie: Das Chorwesen ist tief in den Tälern und Dörfern der «Rumantschia» verwurzelt und wirkt auch identitätsstiftend. Getanzt und gespielt wird auf Rätoromanisch etwa in der Burg Riom, der Heimstätte des «Origen Festival Cultural», das auf innovative Weise Musik und Theater mit der rätoromanischen Kultur verbindet – und auch schon Gian Travers’ Theaterstoff von 1534 aufgegriffen hat.

An der Front und in
der Ferne

An der Front und in
der Ferne

«Hei fraischgiamaing meis matts!», ruft Benedikt Fontana 1499 schwer verwundet aus. Die Bündner Burschen, die «matts», sollen frischen Mutes voranstürmen – und die Schlacht an der Calven, der Grenze zwischen dem Val Müstair und dem Vinschgau, gewinnen. Das tun die «matts», auch wenn Fontanas berühmte letzte Worte wohl erst später ersonnen werden.

«Stai si defenda, Romontsch, tiu vegl lungatg,…!», ruft der Dichter Giacun Hasper Muoth 1887 kämpferisch aus. Die Rätoromanen sollen ihre Sprache, «il lungatg», verteidigen. Das tun sie, doch gegen den Lauf der Zeit erscheinen sie machtlos. Das Rätoromanische schwindet – und zwar schon vor Muoths und Fontanas Zeiten.

Gründe für den Rückgang machen sich schon im Mittelalter bemerkbar: Die Germanisierung schreitet voran. Insbesondere ab dem 19. Jahrhundert kehren viele «mattas» und «matts» auch wirtschaftlich bedingt ihrer Heimat den Rücken – aber oft bleiben sie ihrer Sprache und Herkunft verbunden. So finden sich heute in der ganzen Schweiz entsprechende Vereine und Gruppen.

Gruppen & Vereine
Uniun da las Rumantschas e dals Rumantschs en la Bassa
Vereinigung der Rätoromaninnen und Rätoromanen ausserhalb Graubündens
Quarta Lingua
Vereinigung zur Förderung der rätoromanischen Sprache und Kultur
GiuRu (Giuventetgna Rumantscha)
Vereinigung der rätoromanischen Jugend
Pro Svizra Rumantscha
Verein zur Förderung der Anliegen des Rätoromanischen in der Schweiz
Uniun Rumantscha Rezia Bassa
Vereinigung der Rätoromaninnen und Rätoromanen in der Ostschweiz
Canorta Rumantscha Turitg
Rätoromanische Kinderkrippe in Zürich
Scola Rumantscha Turitg
Rätoromanischkurse für Schülerinnen und Schüler in Zürich
Chant rumantsch
Traditionell verbindet das Chorsingen Rätoromaninnen und Rätoromanen auch ausserhalb Graubündens
Bündner Gemischter Chor Zürich
Chor Rumantsch Zug
Chor Rumantsch Rezia Bassa
Chor Bündner-Verein St. Gallen
Pro Raetia
Verein für Graubünden mit weiteren Adressen von Bündnervereinen in der ganzen Schweiz

Zürich, Bern
oder Bergün? Wo man
heute Rätoromanisch
spricht

Zürich, Bern
oder Bergün? Wo man
heute Rätoromanisch
spricht

Wer das Ortsschild von «Bergün» sieht, erfährt auch gleich, wie das Bündner Bergdorf auf Rätoromanisch heisst: «Bravuogn». Doch wer weiss, dass «Giura» der rätoromanische Name für den Kanton Jura ist, und dass «Argovia» für den Kanton Aargau steht? Dass die Stadt und der Kanton Zürich auch «Turitg» heissen, Bern «Berna» genannt wird und St. Gallen «Son Gagl»?

Wenn auch nicht auf Ortstafeln, so ist das Rätoromanische in «Turitg», «Son Gagl» und nahezu der ganzen Schweiz doch präsent. Schliesslich leben laut jüngsten Zahlen des Bundesamts für Statistik rund zwei Drittel aller Rätoromaninnen und Rätoromanen ausserhalb des rätoromanischen Sprachgebiets. Doch wo genau finden sich diese gut 40 000 Menschen, die Rätoromanisch als Hauptsprache angeben?

«Il rumantsch» –
Landessprache ohne
Podestplatz?

«Il rumantsch» –
Landessprache ohne
Podestplatz?

«Ni Italians, ni Tudais-chs! Rumantschs vulains restar!» Der Dichter Peider Lansel greift 1913 und 1917 zu deutlichen Worten: «Weder Italiener noch Deutsche! Rätoromanen wollen wir bleiben!» Hintergrund sind italienisch-nationalistische Bestrebungen, die rätoromanischsprachigen Gebiete der Schweiz in ihre angebliche Heimat – Italien – zurückzuführen.

Rückhalt in der Schweiz hat das Rätoromanische zu dieser Zeit erst auf kantonaler Ebene: «Rumantsch» ist seit 1880 eine der drei offiziellen Bündner Landessprachen. Auf nationaler Ebene erfolgt die Anerkennung als Landessprache erst rund 60 Jahre später – dafür aber deutlich: 1938 stimmen mehr als 90 Prozent der Wähler (Frauen haben zu dieser Zeit noch kein Stimmrecht) einer Verfassungsrevision zu, mit der Rätoromanisch nach Deutsch, Französisch und Italienisch zur vierten Landessprache wird.

Doch hat das Rätoromanische damit nicht einen Podestplatz verfehlt? Italienisch, Deutsch und Französisch werden ja schon in der Bundesverfassung von 1848 als Nationalsprachen aufgeführt. Das hängt letztlich von der Sichtweise ab: Für viele Rätoromanischsprachige ist «Rumantsch» – sowieso – die erste Landessprache. Sicher ist: Rätoromanisch lässt sich noch entdecken, verstärkt wahrnehmen – und vermehrt sprechen und schreiben.

Von Müstair nach
Mustér

Von Müstair nach
Mustér

In Graubünden lebt durchschnittlich auf nahezu jedem Quadratkilometer eine Steingeiss oder ein Steinbock. Etwas näher kommen sich die Rätoromaninnen und Rätoromanen: Auf einem Quadratkilometer leben rund vier Personen, die Rätoromanisch als Hauptsprache angeben.

Das Problem mit diesen Durchschnittswerten: Graubünden hat nebst 937 Bergen gut 150 Täler, in denen traditionell Bündnerdeutsch, Walserdeutsch und Italienisch gesprochen wird, hinzu kommen viele weitere Sprachen. Noch dazu weist das Rätoromanische fünf verschiedene Ausprägungen, sogenannte Idiome, auf.

Ein Rätoromane, der in Müstair im Münstertal wohnt, versteht somit nicht zwingend eine Rätoromanin, die in Disentis/Mustér in der Surselva lebt – obwohl Müstair und Mustér auf das lateinische Wort «monasterium» (Kloster) zurückgehen. Noch dazu trennt die beiden eine Postauto- und Zugreise, die rund 4.5 Stunden dauert. Das ist knapp länger als eine Zugfahrt von Chur quer durch die Schweiz nach Genf.

Puter und Portugiesisch
in Pontresina

Puter und Portugiesisch
in Pontresina

Im Oberengadin wird traditionell Puter gesprochen. In Pontresina – rätoromanisch Puntraschigna – ging jedoch der Anteil der Rätoromanischsprachigen von rund 45 Prozent im Jahr 1880 auf gut acht Prozent im Jahr 2000 zurück. Ein Grund ist der Tourismus und dessen Bedarf an Arbeitskräften. So sprechen heute in Pontresina etwa neun Prozent der Menschen Portugiesisch – mehr also als Rätoromanisch. Allerdings lernen Portugiesinnen und Portugiesen relativ rasch Rätoromanisch, da es sich in beiden Fällen um eine lateinische Sprache handelt.

Heimisch fühlt sich in Pontresina übrigens das Bündner Wappentier: An den Hängen des nahen Piz Albris leben gut 1800 Steinböcke. Sie bilden eine der grössten Steinbockkolonien der Alpen.

Tiffel, truffel oder
hardefel?

Tiffel, truffel oder
hardefel?

Wie macht man eigentlich Maluns? Ganz einfach: Man nehme fein geriebene Kartoffeln, brate diese in Mehl und Butter und serviere das traditionelle Kartoffelgericht beispielsweise mit Apfelmus. Nicht ganz so einfach ist es allerdings, zu Kartoffeln zu kommen. Zumindest nicht auf Rätoromanisch.

Keine Lust auf Kartoffeln?

Wem Kartoffeln – respektive «tiffels» oder «truffels» – nicht schmecken, kann es im Engadin mit «cardifiol» und in der Surselva mit «carflur» versuchen: Blumenkohl. Wer ganz genau wissen will, was es mit dem Blumenkohl – und überhaupt mit rätoromanischen Wörtern – auf sich hat, kann im «Dicziunari Rumantsch Grischun» nachschlagen. Das grosse Wörterbuch zum Rätoromanischen ist auch online verfügbar: drg.ch

Sprache säen,
Vielfalt ernten

Sprache säen,
Vielfalt ernten

Wie sehen eigentlich die Gärten in der «Rumantschia», im rätoromanischen Sprachgebiet, aus? Die Antwort ist: sehr vielfältig. In der Surselva gedeiht etwa Mangold in der Variation «urteis», in den sutselvischen Gärten, etwa im Domleschg, als «mangieult». Kein Wunder, schmecken auch Capuns – mit Mangoldblätter umwickelte Teigpaketchen – nicht überall gleich.

Das Beispiel zeigt: Das Rätoromanische sorgt mit seinen fünf Idiomen für Vielfalt – im Garten und in der Küche, in der Kultur und im Leben. Im Verbund mit allen Schweizer Landessprachen trägt das Rätoromanisch dazu bei, dass das Sprechen und Schreiben in der Schweiz nicht zur Monokultur wird.

Wie wäre es also, Rätoromanisch im eigenen Alltag zu säen und gedeihen zu lassen? Eine Liebeserklärung ganz individuell im Unterengadiner Idiom Vallader zu machen? Oder abends surselvische «canzuns» zu singen?

Inspiration – in jedem
Idiom

Inspiration – in jedem
Idiom

Säe auch Du Sprache – und sieh und staune, wie dein eigener, rätoromanischer Sprachgarten wächst und gedeiht. Eine gute Adresse für Inspiration in deinem bevorzugten Idiom ist der Pledari Grond: pledarigrond.ch

Rätoromanisch
(kennen) lernen

Rätoromanisch
(kennen) lernen

Muss man gleich an die Universität, wenn man Rätoromanisch lernen will? Rätoromanische Sprachwissenschaft wird an den Universitäten Zürich, Fribourg und Genf gelehrt. Etwas einfacher geht es mit den Online- und Vorort-Kursen der Organisation «Lia Rumantscha»: curs.ch

Rätoromanisch lässt sich auch ganz einfach in den Alltag integrieren, etwa mit den täglich neuen Video- und Audio-Angeboten des Medienhauses «Radiotelevisiun Svizra Rumantscha»rtr.ch

Wer sich lieber in eine rätoromanische Zeitung vertieft, kann dies ebenfalls tun, etwa anhand der Tageszeitung «La Quotidiana» suedostschweiz.ch

Und was ist mit Kindern oder Jugendlichen? Diese können natürlich auch ausserhalb der «Rumantschia» Rätoromanisch lernen. In Zürich gibt es etwa die Kinderkrippe «Canorta Rumantscha Turitg»: canortarumantscha.ch

Ein wichtiges Pilotprojekt der «Lia Rumantscha» zur Förderung des Rätoromanischen in der Diaspora sind zudem die seit einigen Jahren angebotenen Rätoromanisch-Kurse für Kinder: curs.ch 

In Kürze soll Rätoromanisch zudem landesweit auf der Oberstufe und an den Gymnasien als «Freifach dritte Landessprache» angeboten werden. Die «Lia Rumantscha» erteilt Lehrpersonen und Interessierten gerne Auskünfte: liarumantscha.ch

Funken des Herzens,
Vorboten des Frühlings

Funken des Herzens,
Vorboten des Frühlings

Auf einen Schlag den Winter vertreiben und zugleich das Herz der Ersehnten gewinnen? Der alte Brauch «Trer schibettas» macht es möglich. In den rätoromanischen Ortschaften Danis-Tavanasa und Dardin schnitzt die männliche Jugend traditionell aus Erlenholz Scheiben, die sie im Frühjahr von den Hängen oberhalb der Dörfer mittels Haselzweigen in die dunkle Nacht schleudert – und zwar als glühende, im Feuer erhitzte Geschosse. Begleitet werden die Geschosse von Rufen wie «Oh, tgei biala schibetta per Bianca!». Sollte eine «biala schibetta» allerdings schlecht fliegen, wird sie nicht dem ersehnten Mädchen gewidmet, sondern beispielsweise einem unbeliebten Lehrer.

Alte Bräuche zur Vertreibung des Winters kennt man in der «Rumantschia» noch andere. Am bekanntesten ist wohl «Chalandamarz». An diesem Tag rückt die Jugend dem Winter mit Glocken und Peitschen zu Leibe. In Scuol wird zudem ein aufwendig aus Roggenstroh gefertigter «Hom Strom», ein Strohmann, in Brand gesetzt.

Schellenurslis Mutter

Schellenurslis Mutter

Uorsin? Kurzes Zögern. Ursli? Schon bekannter. Schellenursli? Ah, die Geschichte des Jungen, der durch den tiefen Schnee zu einer Maiensässhütte steigt, um sich eine grosse Glocke zu besorgen. Mit dieser will er am «Chalandamarz», dem alten Brauch zur Wintervertreibung, teilnehmen – und zwar nicht zuhinterst im Umzug, wo nur kleine Glocken ertönen.

Schellenursli – oder rätoromanisch eben «Uorsin» – ist in den Kinderzimmern der Schweiz nach wie vor präsent; nicht zuletzt wegen der Illustrationen des Künstlers Alois Carigiet. Weniger bekannt ist die Schöpferin der 1945 erschienenen Geschichte, Selina Chönz. Sie lebte im Unterengadiner Dorf Guarda, gleich neben dem «Schellenursli-Haus». Neben weiteren Kinderbüchern wie «Flurina» (1952) und «La naivera» (Der grosse Schnee, 1957) schuf sie auch Gedichte und Novellen, die noch – oder wieder – zu entdecken sind.

Modern Times –
Comics und Games
auf «Rumantsch»

Modern Times –
Comics und Games
auf «Rumantsch»

Was ist ein «Buttatsch cun îgls»? Nichts Alltägliches, sondern ein «Kuhmagen mit Augen». Dieses Wesen taucht in alten, alpinen Sagen auf – und neuerdings auch in einem rätoromanischen Comic: «Il Crestomat». Der E-Comic basiert auf der «Rätoromanischen Chrestomathie», einer der wichtigsten Textsammlungen des Rätoromanischen, und ermöglicht einen modernen Zugang zur Geschichte der «Rumantschia» und zum Rätoromanischen: crestomat.ch

Präsent ist das Rätoromanische auch in der Welt der Computerspiele – und zwar mit «Mundaun», einem laut den Machern «lovingly hand-penciled horror tale set in a dark, secluded valley of the alps». Gesprochen wird in dem von Hand gezeichneten Horrorspiel nicht etwa Englisch, sondern Rätoromanisch – und die Handlung ist rund um den Piz Mundaun in der Surselva angesiedelt. Wohlwollend besprochen wurde das Werk aber durchaus auf Englisch – etwa in der «Washington Post»: mundaungame.com

«Rumantsch Grischun» –
braucht es eine
Einheitssprache?

«Rumantsch Grischun» –
braucht es eine
Einheitssprache?

Wer den Schlüssel zum Rätoromanischen sucht, findet ihn schnell. Der Schlüssel heisst nämlich in allen Idiomen «clav», ausser auf Puter, hier sagt man «clev». Wer die Unterschiede zwischen den Idiomen, den verschiedenen regionalen Ausprägungen des Rätoromanischen, erkennen will, braucht mitunter also ein gutes Auge. Dieses heisst etwa auf Puter «ögl», auf Sursilvan «egl» und auf Surmiran «îgl».

Wie kommuniziert man angesichts dieser Vielfalt am einfachsten untereinander? Und könnte eine einheitliche Schriftsprache die vielfältige, aber bedrohte Sprache retten? Aus solchen Überlegungen wurde in den 1980er-Jahren die Standardschriftsprache «Rumantsch Grischun» geschaffen. Diese wird heute vor allem im überregionalen Kontext und als Amtssprache verwendet, aber in den Volksschulen der Bündner Gemeinden kaum noch als sogenannte Alphabetisierungssprache gelehrt: Die meisten Gemeinden entschieden sich zur Rückkehr zu ihrem angestammten Idiom. Als Amts-, Medien- und Informationssprache hat sich «Rumantsch Grischun» hingegen etabliert.

Anwendungsbeispiel

banknote

«Rumantsch automatic» –
können Computer
Rätoromanisch?

«Rumantsch automatic» –
können Computer
Rätoromanisch?

Kann die Internet-Suchmaschine Google Rätoromanisch? Nein. Kann irgendein Computer oder Programm deutsche Texte auf Rätoromanisch übersetzen? Ja.

Die Fachhochschule Graubünden hat in Zusammenarbeit mit der «Lia Rumantscha» einen Prototyp für eine rätoromanische Übersetzungssoftware entwickelt: «Translatur-ia». Noch ist die Qualität der Übersetzungen unzureichend – und das hat seinen Grund: Bei grossflächig gesprochenen Sprachen kann ein digitaler Übersetzer auf mehrere Milliarden Übersetzungen zurückgreifen. Das ist beim Rätoromanischen nicht der Fall. An der Fachhochschule ist man dennoch überzeugt: Der Prototyp hat Potenzial: translaturia.fhgr.ch

Im Medienhaus «Radiotelevisiun Svizra Rumantscha» (RTR) wird ebenfalls an einem digitalen Übersetzer gearbeitet. Bereits im Einsatz ist ein «Speech to text»-Tool. Dieses kann als Text festhalten, was in der Einheitssprache «Rumantsch Grischun» sowie in den Idiomen Sursilvan und Vallader gesprochen wird. Doch wozu dieser Aufwand? Möglich wird mit der Spracherkennung die automatische Transkription von politischen Debatten oder von Dialogen in alten Film- und Audio-Aufnahmen. Und technisch bilden die Projekte die Grundlage, dass der Übersetzungsdienst von Google vielleicht auch mal «Allegra» oder «Bun di» sagt.

«Rumantsch poetic» –
was macht rätoromanische
Musik und Lyrik aus?

«Rumantsch poetic» –
was macht rätoromanische
Musik und Lyrik aus?

«In üna lingua estra tuot es da stà», heisst ein in einem Gedicht von Angelika Overath. Auf Deutsch: «In einer fremden Sprache ist immer Sommer.» Angelika Overath ist vor einigen Jahren aus Deutschland ins Unterengadin gezogen – und hat einen poetischen Zugang zur rätoromanischen Sprache gefunden.

Sommerlich schöne Zugänge zur rätoromanischen Poesie gibt es viele – und es gibt auffallend viele weibliche Stimmen, darunter die Trägerinnen des renommierten Schillerpreises, Leta Semadeni und Flurina Badel. Entdecken lassen sich die Stimmen unter anderem dank dem rätoromanischen Verlagshaus «Chasa Editura Rumantscha»:  chasaeditura.ch

Einen klangvollen Zugang zum Rätoromanischen bietet natürlich auch die «musica rumantscha», in der sich Poesie und Musik sehr nahekommen, und in der sich oftmals uralte Lieder mit modernen Klängen verweben. Als Singer-Songwriter treten etwa Bibi Vaplan und Pascal Gamboni in Erscheinung, im Bereich Hip-Hop machte ab 1999 die Gruppe Liricas Analas auf sich aufmerksam: 2004 hat die Formation aus der Surselva das erste rätoromanische Rap-Album überhaupt veröffentlicht.

Bibi Vaplan: 
Lascha a mai 

Pascal Gamboni:
Unics

Bibi Vaplan:
Lascha a mai 

Liricas Analas: 
Siemis 

Zwischen Identität und
Exotik

Zwischen Identität und
Exotik

Wie junge Erwachsene aus Romanischbünden Sprache erleben, welche Bedeutung sie innerhalb ihres Sprachenrepertoires dem Rätoromanischen zuschreiben, welche Einstellungen sie gegenüber dieser Minderheitensprache in Graubünden einnehmen, das sind Fragen, welchen Flurina Kaufmann-Henkel, wissenschaftliche Mitarbeiterin PHGR, in ihrer Dissertation im Rahmen eines SNF-Forschungsprojekts nachgeht.

Familiensprache(n), Schulsprache(n), Umgangssprache(n) und am liebsten gesprochene Sprache(n) variieren innerhalb der untersuchten Gruppe stark und sind auch bei den einzelnen Personen nicht konstant, was bedeutet, dass sie sich im Laufe der Biographie verändern können. Auch innerhalb eines Dorfes oder innerhalb einer Sprachregion gibt es eine grosse Palette an Spracheinstellungen.

Die Aussagen auf dieser Stele zeigen ausschnittsweise und beispielhaft, was Rätoromanisch für junge Menschen im Kontext ihrer gesamten Sprachbiographie bedeuten kann und welchen Wert sie dieser Sprache (im Moment des Interviews) beimessen:

Mehr Infos zum Projekt 

Aline Cortesi (21), Engiadin’Ota:

«Romanisch isch scho au guet, aber mit Französisch chamer ide ganz Schwiz go schaffe, wega dem hani mi für das entschiede.» 

«Rätoromanisch ist schon gut, aber mit Französisch kann man in der ganzen Schweiz arbeiten. Darum habe ich mich dafür entschieden.»

Curdin Melchior (19), Val Schons:

«Rumàntsch e per mai sto egn agid par amprender angles a franzos. Ca igl angles sch’ins varda e quegl ansasez tudestg cun pleds rumàntschs cun ampo egn oter aczent, ampo oters pleds. Betg greav dad amprender ansasez.» 

«Rätoromanisch war für mich eine Hilfe, um Englisch und Französisch zu lernen. Englisch ist ja eigentlich Deutsch mit rätoromanischen Wörtern mit einem etwas anderen Akzent. Eigentlich nicht schwierig zum Lernen.» 

Laurin Luzio (21), Surmeir:

«Natural scu Rumantsch lò erigl adegna igls chels da ‚davos la gligna‘. Propi. Jah cò ist nia sotaint tigl scolast. Alloura eras usche en po, usche en exot.» 

«Als Rätoromane war man immer «die hinter dem Mond». Wirklich. Da kam man beim Lehrer unter die Räder. Da war man ein Bisschen ein Exot.» 

Alexander Bott (21), Val Müstair:

«Apaina cha tavel rumauntsch ma chatti da chà, rumauntsch es il dachasa aifach, jau colliesch il rumauntsch cun tot quai ch’jau n’ha jent.» 

«Sobald ich rätoromanisch spreche fühle ich mich zuhause, Rätoromanisch ist einfach das Zuhause, ich verbinde mit dem Rätoromanischen alles, was ich gerne habe.»

Orlando Cadonau (22), Surselva:

«Romontsch, also gie, per mei eis ei semplamein ina identitad. Jeu sesentel mei buca sco Svizzer ni, ni gie. Jeu sesentel mei sco Romontsch atgnamein.» 

«Rätoromanisch ist für mich Identität. Ich fühle mich nicht als Schweizer. Ich fühle mich eigentlich als Rätoromane.»

Julia Cardoso (19), Engiadin’Ota:

«Eau chat ainfach bel da mantgnair quista tradiziun da discuorrer il rumauntsch, que es per me qualchosa fich speciel da discuorrer rumauntsch, perche cha na bgers discuorran quelo.» 

«Ich finde es einfach schön diese Tradition, Rätoromanisch zu sprechen, zu erhalten. Rätoromanisch zu sprechen ist für mich etwas sehr Spezielles, da dies nicht viele tun.»